Berlusconismus

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Silvio Berlusconi, Namensgeber und Protagonist des Berlusconismus bei einem Wahlkampfauftritt 1994

Berlusconismus (italienisch berlusconismo) ist ein Neologismus für eine moderne Form des Populismus im rechten bis zentristischen politischen Spektrum Italiens. Den Grundstein dafür legte der italienische Politiker und Unternehmer Silvio Berlusconi im Jahre 1993, als er die Partei Forza Italia gründete. Die politisch-soziologische Bedeutung des Phänomens ist ebenso umstritten wie die Frage nach einem „Berlusconismus ohne Silvio Berlusconi“.

Gebrauch und Diskussion

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Der Begriff findet über seinen journalistischen Gebrauch hinaus eine zumeist kritisch gemeinte Verwendung in den Sozial- und Politikwissenschaften. Bei der Beschreibung des Phänomens knüpfen Wissenschaftler u. a. an Thesen des US-amerikanischen Medienwissenschaftlers Neil Postman an.[1] Dieser sah die Urteilsbildung der Bürger durch Unterhaltungsindustrien wie das Fernsehen gefährdet und befürchtete so eine Infantilisierung der Gesellschaft.[2] Der italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori porträtierte den Berlusconismus als den Hofstaat und das Regime eines Sultans.[3]

Der italienische Politikwissenschaftler Gian Enrico Rusconi wandte sich gegen die Vereinfachung, dass Berlusconi als „Medienmogul“ an die Macht gekommen sei und mit seiner Medienmacht die Italiener bloß hinters Licht führe. Vielmehr charakterisierte er den Berlusconismus als eine Politik, die sich mit den Ambitionen breiter, im Mitte-rechts-Bündnis organisierter Kreise decke. Diese politischen Kreise wollten das vom ‚Cavaliere‘ Geschaffene keineswegs aus der Welt schaffen und bereiteten sich schon auf die Ära nach Berlusconi vor. Die Wähler von Berlusconi seien kleine Leute, Händler, Hausfrauen, sogar einfache Arbeiter, die sich wirtschaftlich und sozial benachteiligt fühlen und dem Berlusconismus zuwenden, weil er eine Änderung des Status quo verspreche, neue Spielregeln, da die alten als Bremsklotz für die Wirtschaft gelten würden, eine bürokratische Deregulierung und größere lokale Handlungsspielräume. In diesem Sinne sei der Berlusconismus Ausdruck der italienischen ‚Bürger- bzw. Zivilgesellschaft‘ und Ausdruck einer tiefen Enttäuschung und Ratlosigkeit vieler Bürger über die alte Politik bzw. über das traditionelle Parteiensystem, aus dem der Berlusconismus ihnen als möglicher Ausweg erscheine.[4]

Der italienische Politikwissenschaftler Giovanni Orsina definiert Berlusconismus als ein Gemisch (“emulsion”) aus (Rechts-)Liberalismus und Populismus (wobei zunächst das populistische und das liberale Element gleich stark vertreten gewesen seien), nach der Jahrtausendwende seien die marktwirtschaftlichen Elemente des Berlusconismus allerdings zurückgegangen, während gesellschaftspolitisch konservative zugenommen hätten.[5] Weiter vergleicht er Berlusconismus mit einem dreiarmigen Kraken: Der Kopf des Kraken stehe für den Mythos der „guten“ Zivilgesellschaft (im Gegensatz zum Staatsapparat); die drei Tentakel repräsentierten einen „freundlichen Minimalstaat“, „Hypopolitik“ (also eine Einhegung politischer Konflikte im Gegensatz zur traditionellen Überpolitisierung der italienischen Gesellschaft während der Ersten Republik) und die Identifizierung einer „neuen, tugendhaften politischen Elite“. Die Konzepte der guten Zivilgesellschaft und Hypopolitik seien sowohl populistisch als auch liberal; der freundliche Minimalstaat sei überwiegend dem Liberalismus, die tugendhafte neue Elite hingegen dem Populismus zuzuordnen. Wie für den Populismus im Allgemeinen typisch, „heilige“ auch der Berlusconismus „das Volk“, das alle Tugenden verkörpert, während die Elite es „verraten“ habe. Anders als bei autoritären Formen des Populismus, stellte sich Berlusconi „das Volk“ aber als vielfältige und pluralistische Ansammlung von Individuen vor und nicht als ethnisch, kulturell und historisch gebundene, in sich ungeteilte, homogene Gruppe.[6]

Die Publizistin Susanna Böhme-Kuby sah in dem Berlusconismus ein Geflecht politischer und ökonomischer Strukturen sowie ein Muster politischen Handelns, derer sich auch das Kabinett Prodi II bedient und so einen „adaptierten Berlusconismus von Mitte-Links“ verwirklicht habe. Es herrsche in Italien also der Berlusconismus unabhängig davon, ob Berlusconi an der Macht ist.[7]

Fürsprecher des Berlusconismus vermeiden die Bezeichnung Berlusconismus eher und neigen dazu, in einer Umkehrung einen Antiberlusconismus zu identifizieren, den sie als eine – aus ihrer Sicht – Form des Antiliberalismus kritisieren. Berlusconis Bewegung versteht sich selbst als Ausdruck des Liberalismus, die Kritik kennzeichnet den Berlusconismus jedoch als eine antiliberale Ideologie. Kritik wie Polemik kulminierten nicht selten in einem Vergleich des Berlusconismus mit dem italienischen Faschismus unter Mussolini. Fachleute lehnten eine Gleichsetzung des Berlusconismus mit dem Faschismus unter Verweis auf unterschiedliche historisch-politische Kontexte freilich ab.

Die Diskussion über den Berlusconismus berührt insgesamt eine Reihe von Themenkreisen, die sich grundsätzlich mit verschiedenen Formen von Herrschaft befassen, hierbei vor allem mit den Phänomenen:

Der Berlusconismus wird darüber hinaus hinsichtlich des politischen Gebrauchs von Kommunikationsstrategien diskutiert und steht dabei in Zusammenhang mit den Begriffen:

„Der Berlusconismo, so wie er sich heute präsentiert, setzt sich aus den Elementen Arroganz, Ignoranz, Gerissenheit (furbizia), Überheblichkeit, Widersprüchlichkeit, Aggressivität, Gleichgültigkeit, Interessenbezogenheit und Unberechenbarkeit zusammen. (…) Silvio Berlusconi (…) hat eine konfrontative Kultur in der italienischen Politik installiert.“

Jens Urbat, Political Science, 2007

„Wie der Faschismus ist der Berlusconismus ein gefährliches Übel, schwer auszurotten.“

Dario Fo, 14. März 2006

„Berlusconismus steht für die Wiederentdeckung des demokratischen Populismus und die Neuschöpfung einer Mediendemokratie, die darauf zielt, die traditionelle Parteiendemokratie zu ersetzen. (…) Mussolinis Regime war institutionell antidemokratisch, eine Diktatur, in der Presse- und Meinungsfreiheit unterdrückt wurden. Der Berlusconismus dagegen ist von der Zustimmung der Wähler geradezu besessen, die Demoskopen tagtäglich messen und die mit Hilfe einer medialen Hyperkommunikation aufrechterhalten werden soll.“

Gian Enrico Rusconi in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 2002

„Der Berlusconismus war eine Parodie des Neoliberalismus. Er erweckte bei vielen den Eindruck einer Modernisierung und Liberalisierung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens, aber gleichzeitig zeigte er auch die negativsten Aspekte der politischen Kultur Italiens auf: Nachlässigkeit, Umgehung des Gesetzes, Komplizenschaft zwischen privaten Interessen und öffentlichen Ressourcen. Die politischen Gegner wurden als Feinde der Freiheit, Befürworter des Etatismus, ‚Kommunisten‘ porträtiert. Trotzdem genoss der Berlusconismus unter ‚normalen‘ Bedingungen eine breite Akzeptanz. Angesichts der unerwartet schweren Finanz- und Wirtschaftskrise erwies sich die politische Klasse Berlusconis jedoch als machtlos.“

Gian Enrico Rusconi in: The European vom 7. Dezember 2011[8]

Begriffspaar Berlusconisierung und Deberlusconisierung

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Am Beispiel der intensiven Medienberichterstattung in der „Dienstwagenaffäre“ von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt vom Sommer 2009 stellte der Journalist Gustav Seibt unter der Überschrift „Deutsche Berlusconisierung“ in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung 2010 eine Stimmungsmache durch eine „merkwürdige Koalition öffentlicher Meinungsmacher“ fest, „die vom linksliberalen Leitartikel über die Bild-Zeitung bis zu Frank Plasberg reicht“ und durch „Dauerunterstellung des trivialsten Motivs“ ein groteskes „Moralmobbing“ betreibe. „Die Verbindung von unbelangbarer Stimmungsmacht mit Politikerverachtung“ sei – so Seibt – „der Mix, auf dem die Berlusconisierung des politischen Betriebs [auch in Deutschland] vorstellbar“ werde. Über den Berlusconismus bemerkte Seibt dann: „Berlusconi bietet das Beispiel einer entpolitisierten Politik, in der tatsächlich das persönliche politische Motiv regiert, der Staat also zur Umwelt eines Wirtschaftsimperiums degradiert wird.“[9]

In einem Beitrag für die spanische Tageszeitung El País forderte der italienische Schriftsteller Antonio Tabucchi 2011 eine „Deberlusconisierung Italiens“.[10] Berlusconi warf er darin vor, durch sein Fernseh- und Medienimperium die Italiener in das Regime einer „Truman-Show“ geführt zu haben. Tabucchi trug mit seinem Beitrag zur Verbreitung eines politischen Terminus bei, der insbesondere im Herbst 2013 im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage der Regierung Letta aufgegriffen wurde.[11][12]

  • Norberto Bobbio: Contro i nuovi dispotismi. Scritti sul berlusconismo (= Libelli vecchi e nuovi. Bd. 8). Delado, Bari 2008, ISBN 978-8-822-05508-8.
  • Mauro Calise: Il partito personale (= Saggi tascabili Laterza. STL. Bd. 240). Laterza, Rom u. a. 2000, ISBN 88-420-5971-4 (Nuova Edizione ampliata, als: Il partito personale. I due corpi del leader (= Saggi tascabili Laterza. STL. Bd. 346). ebenda 2010, ISBN 978-88-420-9217-9).
  • Claudia Cippitelli, Axel Schwanebeck: Die neuen Verführer? Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in den Medien. Fischer, München 2004, ISBN 3-88927-343-2.
  • Irene Chytraeus-Auerbach, Georg Maag (Hrsg.): Die italienische Mediendemokratie. Zur Geschichte politischer Inszenierungen und inszenierter Politik im Medienzeitalter (= Kultur und Technik. Bd. 6). Lit, Münster 2006, ISBN 3-8258-0110-1.
  • Giovanni Orsina: Berlusconism and Italy. A Historical Interpretation. Palgrave Macmillan, Basingstoke (Hampshire) 2014, ISBN 978-1-1374-3867-6.
  • Gian Enrico Rusconi: Der „Berlusconismus“ – eine Mutation des demokratischen Systems in Italien? In: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Bd. 37, Nr. 4, 2009, ISSN 0340-0425, S. 617–628, doi:10.1007/s11578-009-0057-y.
  • Gian Enrico Rusconi, Thomas Schlemmer, Hans Woller (Hrsg.): Berlusconi an der Macht. Die Politik der italienischen Mitte-Rechts-Regierungen in vergleichender Perspektive (= Zeitgeschichte im Gespräch. Bd. 10). Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2010, ISBN 978-3-486-59783-7.
  • Enzo Santarelli: Profilo del berlusconismo. Datanews, Roma 2002, ISBN 88-7981-205-X.

Einzelnachweise

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  1. Giovanni Sartori: Homo videns. Televisione e post-pensiero (= Economica Laterza. Bd. 203). 13. Auflage. Laterza, Rom u. a. 2011, ISBN 978-88-420-6156-4.
  2. Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. S. Fischer, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-10-062407-6.
  3. Giovanni Sartori: Il sultanato. Laterza, Rom u. a. 2009, ISBN 978-8-842-08914-8.
  4. Gian Enrico Rusconi: Die italienische Zivilgesellschaft in der Ära Berlusconi. In: Aspekte gesellschaftlicher Mitte in Europa. Annäherungen und Potentiale (= Sinclair-Haus-Gespräche. Bd. 29). 29. Sinclair-Haus-Gespräch, Bad Homburg v. d. Höhe, 24.–25. April 2009. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-7973-1171-9, S. 32–39, (PDF-Datei; 54 kB), abgerufen im Portal kas.de am 16. Dezember 2013.
  5. Giovanni Orsina: Liberalism and Liberals. In Erik Jones, Gianfranco Pasquino: The Oxford Handbook of Italian Politics. Oxford University Press, Oxford 2015, S. 240–252, auf S. 249.
  6. Giovanni Orsina: Berlusconism and Italy. 2014, S. 82.
  7. Susanna Böhme-Kuby: Populismus auf Italienisch. In: Richard Faber, Frank Unger (Hrsg.): Populismus in Geschichte und Gegenwart. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2008, ISBN 978-3-8260-3803-7, S. 149–174, hier S. 164.
  8. Gian Enrico Rusconi: Das Erbe des Berlusconismus (Memento des Originals vom 5. Oktober 2013 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.theeuropean.de. Artikel vom 7. Dezember 2011 im Portal theeuropean.de, abgerufen am 2. Oktober 2013
  9. Gustav Seibt: Deutsche Berlusconisierung. Artikel vom 17. Mai 2010 im Portal sueddeutsche.de, abgerufen am 2. Oktober 2013
  10. Antonio Tabucchi: ‚Deberlusconizar‘ Italia, Artikel vom 12. November 2011 im Portal internacional.elpais.com (Online-Portal der spanischen Tageszeitung El País), abgerufen am 2. Oktober 2013
  11. Tobias Bayer: Showdown im Senat – „Das Risiko für Italien ist fatal“, Artikel vom 2. Oktober 2013 im Portal welt.de, abgerufen am 2. Oktober 2013
  12. Angela Mauro: Il piano di Giorgio Napolitano ed Enrico Letta: deberlusconizzare il governo e aprire la terza Repubblica. Artikel (in italienischer Sprache) vom 1. Oktober 2013 im Portal huffingtonpost.it, abgerufen am 2. Oktober 2013